26 Oct
Total zerknirscht – oder völlig entspannt

Beim Zerkleinern unserer Nahrung bringt die Kaumuskulatur Enormes zustande. Der dabei entstehende Druck entspricht in etwa dem Gewicht einer fünfzig Kilogramm schweren Person die Stöckelschuhe trägt und mit ihrem gesamten Gewicht, auf einem Absatz auf eine flache Handfläche tritt. Und bei einem angespannten Kiefer kann sich dieser Druck sogar noch steigern, bis zu 70 kg. pro Quadratzentimeter.


Die einzelnen Zähne haben bei normaler, entspannter Mundstellung gar keinen Kontakt miteinander. Fachlich wird dies als Ruheschwebelage bezeichnet. Da wir uns nicht oft nicht mehr direkt die Zähne zeigen und sie anstatt dessen zusammen beißen, entstehen in der Muskulatur enorme Zugkräfte. In Phasen höchster Konzentration ist die Spannung in Kopf- und Kieferbereich ebenfalls enorm hoch. Das gilt auch, wenn körperliche oder emotionale Schmerzen vorhanden sind.


Der Volksmund ist da sehr direkt. Redewendungen wie: „Ich beiße die Zähne zusammen und geh da durch“, oder „Ich geh' bald auf dem Zahnfleisch“ sprechen eine deutliche Sprache.


Das Gesicht von Frauen ist oftmals nicht nur anmutiger als das Antlitz von Männern, laut der Fachzeitschrift „Zahnärztliche Mitteilungen" tut es leider auch häufiger weh. Zwischen 15 und 18 Prozent der Frauen sind von Schmerzen im Gesicht, in den Kaumuskeln, den Kiefergelenken oder im Ohrbereich geplagt. Ursache ist oft die Mehrfachbelastung durch die vielen Tätigkeiten, die als Hausfrau, Ehepartnerin, Mutter und im Beruf nebeneinander oder gleichzeitig zu erledigen sind. Etwa neun Prozent der Männer sind von Schmerzen im Kieferbereich betroffen. Beruflicher Ehrgeiz, Konkurrenzdenken unter Männern allgemein und innere Aggressionen können hier als Hauptursachen angeführt werden. Der Gesichtsschmerz verschwindet jedoch im Alter fast völlig, unter den über 64-Jährigen haben nur noch zwei Prozent Probleme.


Verspannen Emotionen den Kieferbereich Eine Ursache des Zähneknirschens liegt vermutlich im Gehirn und hängt mit emotionalem Themen zusammen. In vielen Fällen sind seelische Dysbalancen ebenfalls mit beteiligt. Dadurch, dass wir unsere Ängste nicht zeigen wollen und unsere Nervosität verbergen, steigt der innere Druck. Wenn etwas Wichtiges nicht ausgesprochen wird, bleibt es im wahrsten Sinne des Wortes im Hals stecken und wenn ein großer Brocken nicht zu schlucken ist, ebenfalls. Die daraus resultieren Folgen geben diese innere Anspannungen meist völlig unbewusst und schwer kontrollierbar an den Kiefer- und Kauapparat weiter. Dahinter wirkt das so genannte sympathische Nervensystem, also der Teil des Nervensystems, der sich nicht willentlich beeinflussen lässt.


Hierzu ein Beispiel aus der Tierwelt. Wenn eine Herde Gazellen in der afrikanischen Savanne friedlich grast, sind sie relativ entspannt. Der parasympathische Anteil des vegetativen Nervensystems, der im Körper für Ruhe, Entspannung, Nahrungsaufnahme und Verdauung sorgt, überwiegt. Er beeinflusst auch eine Vielzahl innerer Organe und stimmt die Funktionen des Orgaismus aufeinander ab, es ist wenig Stress vorhanden. Bereits ein ungewohntes Geräusch oder der Geruch eines Geparden in der Nähe, bringt die Gazelle sofort in Alarmbereitschaft. Der sogenannte Stellreflex, ausgelöst vom Sympathikus, bereitet sie innerhalb von Sekunden auf ihre Überlebensstrategie, die Flucht vor. Die Verdauung wird eingestellt, der Herzschlag erhöht, die Muskulatur besser durchblutet und unter Anderem werden Stresshormone wie das Acetylcholin und Noradrenalin ausgeschüttet. Erst in diesem erhöhten Energielevel kann die Gazelle so schnell rennen und ihre riesigen Sprünge vollführen, wenn sie gejagt wird. Sofern der Gepard sie dann schlägt, ist es eine Gnade der Natur, dass sie keine Schmerzen verspürt, wenn sie getötet wird, so übererregt wie sie ist. Falls der Gepard von ihr ablässt und sie nicht getötet wird, wäre sie in diesem Zustand nicht überlebensfähig. Ein wesentlicher Mechanismus, um wieder „herunterzufahren“ wird von der Muskulatur übernommen. Sie wird einige Minuten unkontrolliert zittern, dann erst ist es ihr möglich, sich zu erheben, noch einige Male zu schütteln um dann untraumatisiert zu ihrer Herde zurück zu kehren. Ein Bär würde bei Gefahr kämpfen, ein Opossum stellt sich tot. Somit stehen drei elementare Überlebensstrategien zur Verfügung, Flucht, Kampf und Erstarren, (flight,fight or freeze). Interessanterweise wirken dieselben Mechanismen in uns Menschen. Allerdings sind unsere Gegner keine Geparden oder Säbelzahntiger mehr, die „Spielfelder“ haben sich verlagert.


Falls dieser Kreislauf von Lockerheit, starker Erregung, Erholung und anschließender Gelöstheit unterbrochen wird, bleibt der Organismus in einem erhöhten Stresslevel gefangen. Dann kann man auch von einem Trauma ausgehen. Nicht nur Katastrophen oder Unfälle können dabei weitreichende Spuren hinterlassen. Selbst ein emotionaler Angriff, Streit, Ängste, Sorgen oder auch körperliche Schmerzen erhöhen die sympathischen Auswirkungen. Walter Lechler, der ehemalige Chefarzt einer psychosomatischen Klinik im Allgäu wurde geragt, wie hoch der Anteil der traumatisierten Menschen in Deutschland sei. Seine Antwort war: „Einhundert Prozent der Erwachsenen sind mehr oder weniger davon betroffen, und die Auswege daraus sind so individuell, da hat Jeder seine beste Strategie“.


Ist Zähneknirschen ein fehlgeleiteter Heilungsversuch? Unbehagen im Kopfbereich bis hin zu Muskel- Nerven- und Gliederschmerzen zeigen sich morgens oft schlimmer. Äußere Faktoren wie elektrische Radiowecker am Bett oder eingeschaltete Handys im Kopfbereich des Schlafplatzes beeinflussen den Körper durch elektromagnetische Abstrahlung von außen. Wird ein ungelöstes Problem und die damit verbundene Erregung mit in die Nacht genommen, so wird der gesamte Organismus zusätzlich von innen in Stress gehalten. Die natürliche Ausregulierung der regenerativen Körpervorgänge bei Überlastung erfolgt durch Spannungsabbau - dies geschieht unter Anderem durch Träume und auf der körperlichen Ebene über Muskelarbeit. Ein zu Viel an Spannung wird in Arbeit umgewandelt und dadurch gemindert. Die Intelligenz unseres Wesens ist im Umgang damit so grandios, dass dieser Vorgang über das härteste Material im Körper, unseren Zahnschmelz vollzogen wird. Nächtliches Zähneknirschen und Pressen, in der Fachsprache "Bruxismus" genannt, ist aus dieser Sichtweise ein anstrengender Heilungsvorgang. Die Themen, die untertags scheinbar nicht lösbar sind, werden nachts durchgekaut.


Einige direkte Hinweise, dass bereits Veränderungsbedarf besteht können eine harte Kaumuskulatur sein, Abdrücke der Zähne zeigen sich an der Innenseite der Wangen, beim Zungendrücken entstehen Abdrücke der Zähne am Zungenrand, wenn das Öffnung des Mundes unangenehm ist, oder die ersten Folgen des Knirschens durch schräg abgeschliffene Kauflächen erkennbar werden. Auch Zahnfleischrückgang, Zahnfleischbluten, Entzündungen, und Unbehagen im Kopf- Nacken und Schulterbereich sind mit zu bedenken.
Verspannungen im Kieferbereich wirken sich auch gravierend auf den gesamten Organismus aus. Leider sind sich die meisten "Presser" und "Knirscher" dessen gar nicht bewusst, da sich die Verkrampfungen langsam über Jahre aufbauen. Über Muskelstränge, Nerven- und Energiebahnen (Meridiane) werden diese Spannungen weitergetragen und können unangenehme und oft auch schmerzhafte Auswirkungen in vielen Bereichen unseres Körpers zur Folge haben Diese Beschwerden und Schmerzen werden dann aber meist nicht mit dem Kiefer in Verbindung gebracht. Dabei sind die Folgen einer Kieferverkrampfung oft erheblich, so kann zum Beispiel ein einseitig angespanntes Kiefergelenk über den gesamten Muskelapparat auf das Becken eine so starke Wirkung ausüben, dass die beiden Beckenschaufeln sich verdrehen. Probleme im Lendenwirbelbereich bis hin zu so genannten Beinlängenunterschieden sind die Folgen. Somit ist die Arbeit mit dem Kieferbereich auch als ganzheitlicher Ansatz zu sehen.


Die Selbsthilfe nimmt auch in der Behandlung des Kiefers mittlerweile wieder einen beachtlichen Stellenwert ein, denn mehr und mehr Menschen übernehmen wieder die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit. Wer zum Zähneknirschen neigt, sollte auf Stressbewältigung besonderes Augenmerk legen. Dafür werden verschiedenste Methoden und Techniken zur Verfügung gestellt: Entspannungstechniken wie Autogenes Training, Yoga, Tai Chi oder Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson aber auch sportliche Aktivitäten können helfen, mit den Belastungen des Alltags gelassener umzugehen und letztlich weniger mit den Zähnen zu knirschen.


Der bewusste Zugang zur Kieferregion ist ein wichtiger Baustein in der Selbstbehandlung. Die Übung „Kreisende Ohren“ ist genau dafür entwickelt und sehr effektiv. Lege dir liebevoll die Handflächen seitlich an die Wangen, die Daumen und Zeigefinger verweilen unterhalb der Ohrläppchen, die anderen drei Finger oberhalb der Ohrmuschel. Deine Hände liegen kurze Zeit ruhig und dann lasse sie für eine Minute sanft kreisen. Achte dabei darauf, dass dein Unterkiefer und die Schultern dabei locker bleiben. Dann lasse deine Hände kurz still werden und kreise sie nun in die andere Richtung. Zum Abschluss gönne dir einen tiefen Atemzug und nimm deine Hände langsam seitlich vom Kopf. Stelle dir dabei vor, dass du mehr Raum zwischen den Ohren bekommst und alle Verspannungen seitlich mit abfließen können.


Raus aus der Verbissenheit Durch seine eigene Geschichte und auf der Suche nach effektiven Selbsthilfeübungen ist Peter Seitz selbst tätig geworden und hat mit kompetenten Partnern eine CD erarbeitet, in der es um die ganzheitliche Kieferentspannung geht: „Selbsthilfeübungen zur Kieferentspannung“. Die sieben Übungen darin sind so entwickelt worden, dass sie wichtige Körperregionen für die innere und äußere Stabilität mit beachten. Das Becken, die Wirbelsäule und der Nacken werden mit einbezogen. Der erste Halswirbel mit dem Übergang zum Hinterhaupt sind ebenfalls aktive Mitspieler, genauso wie der Ober- und Unterkiefer, die einzelnen Zähne und die Ohren.
Ein weiteres probates Mittel ist, sich selbst im Tagesablauf zu beobachten, sich sozusagen gedanklich in den Mund zu gucken und zu erkennen, was dort gerade geschieht: Ob zum Beispiel die Zähne zusammen gepresst sind, ob geknirscht wird, oder die Zunge gegen den Gaumen gedrückt ist. Wenn ja, lösen Sie diese Spannung, ganz bewusst.


Kieferentspannung ist Ganzkörperentspannung Das Kieferareal trägt einen wesentlichen Anteil an unserer „entspannten Aufrichtigkeit“ bei, wobei die Zähne und deren Stellung zueinander im Kiefer maßgeblich an der Feineinstellung der gesamten Körperstatik beteiligt sind. Da Stress zu den auslösenden Faktoren des Bruxismus und auch der CMD (craniomandibulären Dysfunktion) zählt, noch ein kleiner Tipp von Peter Seitz: Nehmen wir das Leben doch nicht so verbissen ernst, denn nichts wird bekanntlich so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Humor und ab und zu ein Lächeln über sich selbst sind dabei gute Ratgeber.

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